Worum es hier geht:

In der Schule ist die Angst groß, wenn man ein Gedicht als Aufgabe bekommt. Hoffentlich verstehe ich es nicht falsch.

Aber es gibt auch einige gute Strategien, mit denen man das vermeiden kann.

  1. Stellen wir uns vor: Man liest das Gedicht von Hofmannsthal unten und ist gleich der Meinung, dass der Dichter bzw. genauer: das lyrische Ich mit der Stadt einen geliebten Menschen meint.
  2. Und dann sagt einem der Lehrer, davon stehe nichts im Gedicht.
  3. Was macht man dann?
    1. Man schaut sich das Gedicht noch mal genau unter dieser „Deutungshypothese“ an.
    2. Dann stellt man fest, dass da ein lyrisches jemanden anspricht.
    3. Wenn man häufiger solche Gedichte gelesen hat, dann weiß man, dass normalerweise das lyrische Ich mit sich selbst spricht. Gehen wir mal davon aus.
    4. Dann geht es um eine Stadt, die „da drüben ruht“. Sie wird auf eine Art und Weise beschrieben, die man zum Beispiel auf eine geliebte Frau beziehen kann. Dafür sprechen besonders die Personifizierungen in den Zeilen 06ff.
    5. Dazu kommt in Zeile 09 der Bezug zum lyrischen Ich: „sie schläft im Herzen mein“ – das deutet auf eine enge Beziehung hin, die mit „Glanz und Glut“ verbunden ist, sogar mit „qualvoll bunter Pracht“.
    6. Hier kann man jetzt argumentieren, dass sich das eigentlich nicht (nur) auf Gebäude beziehen kann („Glut“).
    7. Es geht wohl (zumindest auch) um Erfahrungen mit Menschen.
    8. Damit kann man die These vertreten, dass mit der Stadt auch die Menschen darin gemeint sind.
    9. Aber es bleibt natürlich dabei, dass die Stadt nicht identisch mit einer Geliebten sein kann.
    10. Wohl aber ist erstaunlich, wie sehr die Stadt vermenschlicht wird – das ist eigentlich nur erklärlich, wenn das lyrische Ich beim Anblick der Stadt auch an (einen?) Menschen denkt. Sonst sind die Zeilen 06ff nicht zu erklären. Eine Stadt kann nicht weinen, wohl aber diesen Eindruck machen.
    11. Spannend wird es dann am Ende noch mal, wenn das „Du“ ein  zweites Mal aufgenommen wird. Wenn  es heißt:
      „Doch schmeichelnd schwebt um dich ihr Widerschein“, dann ist das eine so intensive Vorstellung, dass diese Personifikation am ehesten verständlich wird, wenn sie mit der Vorstellung von einer (oder auch mehreren) Menschen in der Stadt verbunden ist.
Fazit:
  1. Es geht im Gedicht um eine Stadt.
  2. Die mit der Stadt verbundenen „Impressionen“ sind aber so intensiv, dass sie nicht mehr allein von der Stadt herkommen können, sondern sich im lyrischen Ich wohl konnotativ herausbilden – d.h. es greift hier auf Erfahrungen zurück, die es mit Menschen gemacht hat.
  3. Warum soll es dabei nicht um Menschen gehen, die in dieser Stadt leben – vielleicht auch um einen ganz bestimmten Menschen, der für das lyrische Ich mit „Gut“, „qualvoll bunter Pracht“, aber auch mit „schmeichelnd“ schwebenden „Widerschein“ verbunden ist.
  4. Das heißt: Die Deutungshypothese war falsch, wenn auf die Gleichsetzung der Stadt mit einem Menschen hinausläuft.
  5. Sie ist aber nicht mehr völlig falsch, wenn man die Intensität der vermenschlichten Bilder so erklärt, dass diese Stadt über die Menschen in ihr etwas Menschliches bekommt.

Hugo von Hofmannsthal

Siehst du die Stadt?

01        Siehst du die Stadt, wie sie da drüben ruht,
02        Sich flüsternd schmieget in das Kleid der Nacht?
03        Es gießt der Mond der Silberseide Flut
04        Auf sie herab in zauberischer Pracht.

05        So geisterhaft, verlöschend leisen Klang:
06        Sie weint im Traum, sie atmet tief und schwer,
07        Sie lispelt, rätselvoll, verlockend bang…
08        Der laue Nachtwind weht ihr Atmen her,

09        Die dunkle Stadt, sie schläft im Herzen mein
10        Mit Glanz und Glut, mit qualvoll bunter Pracht:
11        Doch schmeichelnd schwebt um dich ihr Widerschein,
12        Gedämpft zum Flüstern, gleitend durch die Nacht.

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