Worum es hier geht:
Im Folgenden wird versucht, einen über 200 Jahre alten Text möglichst optimal zu verstehen.
„Deep reading“ bedeutet bei all diesen Schritten, dass man möglichst genau auf den Wortlaut des Textes eingeht und ihn gewissermaßen „entfaltet“. Der Verfasser hat ja am Ende langer Überlegungen eine Art Bündel geschnürt, das man im Vorgang intelligenten Lesens wieder auseinandernimmt – wie ein Geschenk, das man regelrecht „ausbreitet“.
Schiller und sein Glaube an die moralische Wirkung des TheatersVorbemerkung:Am 26.6.1784 hält der immer noch recht junge Schiller (geboren 1759) eine Rede, in der er der Leitfrage nachgeht: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“
Dabei muss man zunächst wissen, dass mit einer „stehenden Schaubühne“ ein fest an einem Platz eingerichtetes Theater gemeint ist. Heute ist so etwas selbstverständlich, in der Geschichte taucht so etwas in Deutschland aber erst ab dem 17. Jahrhundert auf – und zwar als Hoftheater von Fürsten. Vorher und später auch parallel dazu gab es fahrende Schauspielergruppen, die nacheinander wie heute ein Zirkus an verschiedenen Orten eine Wanderbühne präsentierten.
Ein Nationaltheater, wie es in Frankreich oder England möglich war, konnte es in der deutschen Kleinstaaterei nicht geben, so sehr Dichter wie Lessing oder auch Schiller sich das wünschten.
Schiller kam es in seiner Rede darauf an aufzuzeigen, dass ein Theater nicht nur der Unterhaltung dient, sondern höhere Ziele verfolgen kann und soll.
Veröffentlicht wurde die Rede später unter dem Titel: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet.“
Wir präsentieren und analysieren hier einen zentralen Auszug. Nicht ganz so wichtige Passagen haben wir ausgelassen.
(…)
Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt.
Schiller beginnt mit einer sehr gewagten These. Immerhin behauptet er, dass die Bühne, also das Theater auch über so etwas wie Gerichtsbarkeit verfügt und dabei sogar mehr leisten kann als die normalen Gerichte.Wenn
- die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt,
- wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten
- und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet,
übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.
- Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen
- und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben.
- Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei,
- und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. […]
- Zunächst einmal geht es darum, dass auch nachträglich, also nach dem Tode von Verbrechern, diese noch bestraft werden können. Hierzu kann einem zum einen einfallen, dass die normale Auffassung besagt, dass mit dem Tode eines Menschen auch seine Schuld erlischt. Außerdem fragt man sich, was jenseits der Grenze der normalen Strafe denn noch erreicht werden kann.
- Dann wird ihr „schändliches Leben“ zum didaktisch-pädagogischen Impuls für die Nachwelt. Interessant dabei ist, dass zumindest der Eindruck erweckt wird, die Verbrecher müssten dabei dieses Leben „wiederholen“.
- Das fast schon Höllische daran ist für Schiller, dass sie dieses Leben nicht mehr ändern können. Als maximale Strafe kann schon begriffen werden, dass es keinen Platz für Reue und Buße mehr gibt.
- Etwas überraschend kommt dann ein schon fast youeuristisches Element mit ins Spiel, nämlich der „wollüstige“, also lustbetonte Übergang vom Entsetzen zur Verfluchung.
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aus: Friedrich Schiller, Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784)
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